Psychologische Beratung und Coaching
für Familien mit Autismus

Kassandra-Effekt

Beziehung führen mit Autismus

Das Problem mit der Kommunikation ist die Illusion, dass sie stattgefunden hat.

George Bernard Shaw

Partnerschaft mit Autismus

Was Paare mit Autismus nicht merken

Schon mal was vom Kassandra-Effekt gehört? Nein? Ich auch nicht, bis ich online auf ein paar unspezifische Zeilen über Autismus und Kassandra gestoßen bin, die mich nachdenklich machten. Ich selbst bin seit zwei Jahrzehnten mit einem Asperger-Autisten verheiratet, ohne dass ich die ersten 10 Jahre davon gewusst habe. Erst in den letzten Jahren haben sich viele meiner Probleme gelöst, weil mir der Zusammenhang zwischen seinem Autismus und meiner Kassandra-Effekt-Situation klar wurde. Aber von vorne…

Wer war Kassandra?

Exkurs in die griechische Mythologie

Apollon, der Gott des Frühlings, der Reinheit, der Mäßigung, des Lichts, der Heilung und der Weissagung, verliebte sich in die wunderschöne Kassandra. Um sie für sich zu gewinnen, schenkte er ihr die Gabe, Ereignisse vorherzusehen. Kassandra hatte trotz des großzügigen Geschenks aber kein Interesse an Apollon, worüber er sehr zornig wurde. Er belegte sie mit einem Fluch, weil er das Geschenk nicht zurücknehmen konnte. Von nun an sollte niemand mehr die verzweifelten Kassandra-Rufe hören. Und das drohende Unheil, das sie kommen sah, trat unerbittlich ein.

Kassandra in einer Beziehung mit Autismus

Das Phänomen, wenn sich ein Partner in der Beziehung mit seinen Werten, Vorstellungen und Meinungen nicht gehört, gesehen und nicht validiert fühlt, wird manchmal Kassandra-Effekt genannt. Dadurch sinkt das Selbstbewusstsein und Probleme wie Depressionen, Frust oder Einsamkeit schleichen sich ein. Nun kann ich meinem Mann wirklich nicht vorwerfen, dass er mich und was ich tue, nicht wertschätzt. Immer ist er stützend und wohlwollend an meiner Seite. Der perfekte Ehemann eben. Und dennoch, da ist etwas, das ich schlecht konkretisieren kann. Jahrelang weiß ich nicht, was es ist, aber mein sonst gesundes Selbstbewusstsein hat sich längst verabschiedet. Was ist geschehen? Ich bin ein emotional orientierter Mensch und meine Intuition im Alltag ist recht zuverlässig. Logik ziehe ich als Ratgeber im Zweifelsfall immer erfolgreich hinzu. Soweit so gut. Wenn man aber mit einem hochintelligenten, rational und logisch denkenden “wandelnden Lexikon” verheiratet ist, dann gerät man auch als durchaus gestandene Akademikerin ins Wanken. Und wieso das so ist, möchte ich Dir heute erklären. Für meinen Mann scheint es meine Art von Alltags-Intuition nicht zu geben. Mein Bauchgefühl ist für ihn wohl eher ein Zeichen von Hunger, einer beginnenden Magen-Darm-Grippe und nur selten tatsächlich eine innere Warnung oder handfestes Wissen. Jedenfalls hinterfragt sein Gehirn alles, immer und blitzschnell rein wissenschaftlich. Sein Gehirn funktioniert so. Meins aber nicht. Mir ist es einfach zu anstrengend, auszurechnen, was der Flächeninhalt des Käsebrots ist, das auf dem Teller meiner Tochter liegt. Vorteil ist natürlich, dass sie gut in Mathe ist. Ich für meinen Teil möchte aber nur das Essen genießen und klinke mich aus solchen Abendbrot-Gesprächen aus. Im Alltag bin ich sehr praktisch und schnell veranlagt. Ich lese mir nicht lange Gebrauchsanweisungen durch und ziehe auch keine Schutzbrille an, wenn ich einen Nagel in die Wand haue. Das sieht mein Mann weniger gern und hat hin und wieder auch recht. Sein strukturiertes Vorgehen ist mir aber zu langsam und viel zu korrekt. Ich bin mit meiner Intuition auch ohne viel Theorie erfolgreich. Mein Problem ist nur, dass er alles extrem schnell lernen kann und echt viel weiß. Er findet Fehler oder Disharmonie und bevorzugt Korrektheit und Präzision. Kurz gesagt: Ein Perfektionist mit Pareto-Prinzip. Mal eben schnell etwas erklären, um eine Botschaft zu vermitteln - no way! Ich will oft nur ein einfaches Ja oder Nein oder ggf ein Vielleicht hören und mein Mann ist mit solch grober Einschätzung überfordert. Mir hingegen sind seine komplizierten Abwägungen zu umständlich. Praktisch veranlagt fehlt mir die Geduld zu so viel Theorie. Klar hat er recht: Man sollte die Gebrauchsanweisung lesen, wenn man ein neues Gerät im Praxistest nicht zerstören will. Man sollte seine Augen schützen und ja, er hat auch bei vielen anderen Dingen recht, denn er ist ein wandelndes Lexikon. Aber auch ich habe Recht. Für manche Dinge brauche ich ausschließlich mein Bauchgefühl und liege trotzdem richtig. Ich kann und will nicht immer alles statistisch oder wissenschaftlich erörtern. Mein Bauchgefühl ist gut genug und meine Aufgaben sind schnell erledigt. Trotzdem fühle ich mich oft nicht ernst genommen oder füge mich der Überzeugungskraft meines Mannes, was mir natürlich nicht gut tut. Eine Lappalie namens Drosophila melanogaster zu deutsch: Fruchtfliege wird eines Tages zum Wendepunkt meines Kassandra-Leids. Erstaunlich, dass solch kleine, unscheinbare Dinge das Fass zum Überlaufen und in meinem Fall sogar dauerhaft Seelenfrieden bringen können. In unserem kleinen WC, ohne Pflanzen und ohne ersichtliche Nahrungsquellen, sammeln sich Unmengen Fruchtfliegen am Fenster. Mir ist es total egal, warum sie sich dort tummeln, wo es absolut keine Nahrung für sie gibt. Sie sind eben da und stören mich. Mein Bauchgefühl sagt mir: Sie mögen es dort. Ich mag sie dort aber nicht. Ein kleiner Kommentar meinerseits darüber zu meinem Mann und ein Streitgespräch beginnt. “Es macht keinen Sinn dort zu sitzen, denn da finden sie nichts zu fressen. Warum sind sie gerade dort?” - Ohne weiter auf diese Belanglosigkeit eingehen zu wollen, entgegne ich: “Wahrscheinlich brauchen sie Licht!” - “Nein, Quatsch." Das macht keinen Sinn", sagt mein Mann so bestimmt, dass ich mich fast dumm fühle und verstumme. Sein enormes Wissen und Selbstbewusstsein ist einerseits sehr attraktiv an ihm. Es hat aber auch dazu geführt, dass ich mich immer kleiner neben ihm fühle. Zugegeben, ein Fruchtfliegen-Problem als Auslöser für Selbstzweifel ist fragwürdig. Doch nach jahrelangen Alltagsdiskussionen mit einem “wandelnden Lexikon” entwickeln sich ungute Reaktionsmuster ganz automatisch. Mein Bauchgefühl sagt mir zwar, die Fliegen zieht es ans Licht, aber ich schweige, denn bei einem Disput Bauchgefühl gegen Lexikon habe ich nur klägliche Chancen. Außerdem will ich das Warum der Fliegen überhaupt nicht verstehen. Ich will nur die Fliegenplage loswerden. Und genau hier haben wir ein klassisches Problem zwischen Autist und Nicht-Autist. Mir sind Details nicht so wichtig. Mir ist der Gesamtkontext wichtig und das Ergebnis bzw. mögliche Konsequenzen, nämlich, dass die Fliegen weg sind. Diese Situation wird schließlich zum Schlüsselmoment in meinem Leben, weil ein Konflikt wegen Fruchtfliegen am Fenster zu absurd ist. Plötzlich wird mir klar, dass das Gehirn meines Mannes komplett anders funktionieren muss als meines.

Das autistische Gehirn fokussiert anders

Autistische Menschen sind von Natur aus sehr detailorientiert und auf Fehlerrecherche programmiert. Fliegen am Fenster, wo es nichts für sie zu fressen gibt, das passt nicht zusammen. Mein Gehirn aber verarbeitet die Information als Gesamtkontext “Fliegenplage loswerden” und interessiert sich zunächst nicht für weitere Details. Mein Mann könnte argumentieren, dass wenn er das Warum kennt, er auch die Viecher loswerden kann. Ich stimme zu. Wissenschaftliches Ergründen ist wichtig und richtig. Manchmal für mich aber schlichtweg unnötig, umständlich und zudem in vielen Situationen wenig effektiv. Und somit habe auch ich recht und möchte, dass dies validiert wird! In solchen unscheinbaren Alltagsmomenten gibt es die größten Streitereien, Missverständnisse, Kassandrarufe und Frust. In meinen Paar-Coachings erlebe ich dieses Muster ständig. Wenn ich als neutraler Coach wahrscheinlich zum ersten Mal den Kassandraruf validiere und über die unterschiedlichen Fokus des Gehirns aufkläre, erleben beide Partner Erleichterung und einen Aha-Effekt. Wie viele autistische Partner, hat auch mein Mann nicht bemerkt, dass seine sachlichen (!) Kommentare mich emotional (!) angestrengt und zunehmend verunsichert haben. Ich wusste, dass ich prinzipiell ein fähiger Mensch bin. Ich wusste nur nicht, warum ich mich neben diesem charakterstarken Mann so klein fühlte. Ich vertraue ihm zu 100% und ich liebe ihn unendlich sehr. Seine starke Persönlichkeit finde ich super attraktiv. Ich fühle mich zudem geschützt, wertgeschätzt und immer unterstützt. Und dennoch, da war immer dieses lästige "Aber”. Den Fruchtfliegen an der Fensterscheibe verdanke ich die Wende. Der Frust über so eine Banalität, bei der mein Mann mal wieder das letzte Wort hatte, sollte der Selbstsicherheit endgültig weichen. Das ging nicht von heute auf morgen, aber ich steckte mir kleine Ziele und kündigte die immer auch an: “Ich arbeite an mir: Ich möchte selbstbewusster durchs Leben gehen. Bitte rechne damit, dass ich alles, was du sagst, hinterfragen und bestreiten werde. Ich suche keinen persönlichen Konflikt mit dir. Nach wie vor ist mir unser respektvoller Umgang wichtig. Ich will aber üben, mich in meinen Ansichten zu behaupten. Ich will nichts mehr stillschweigend hinnehmen, nur weil ich es wissenschaftlich nicht belegen kann. Ich möchte nicht belehrt oder informiert werden. Wenn ich etwas genauer wissen will, dann lese ich es nach.” Kassandras Rufe sollten nun nicht mehr ungehört verklingen. Ich übte mich auf Schritt und Tritt im Hinterfragen und provokanten Kontern mit meiner intuitiven Intelligenz. Mein Mann, der mich immer in allem fördert, war stolz auf mich. Sein Ego war nicht gekränkt, er hatte nicht das Bedürfnis einen Wettkampf einzugehen. Stattdessen lernte er, auch meine Ansichten wertzuschätzen und plötzlich entwickelten wir, samt Kindern, ein Quäntchen Humor, um mit den verschiedenen Ansichten umzugehen. Es wurde lustiger und lebendiger. Keiner schluckte seine Meinung mehr herunter und jeder durfte auf seine Ansicht bestehen. Wikipedia und Bauchgefühl wurden zu einem Team.

Fazit:

Emotionale Intelligenz ist weniger leicht dingfest zu machen als Ratio und Logik, aber sie schließen einander nicht aus. Ich kann bis heute nicht erklären, warum Fruchtfliegen ein nahrungsarmes Fenster so konsequent besetzen. Aber ich weiß, dass mein Mann und ich sehr gut zusammenpassen. Liebe, Vertrauen, Respekt, Ehrlichkeit und Wohlwollen sind das Geheimrezept für unsere gelungene Ehe mit Autismus.

Unterschrift Dorothea Whitehead

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